ZEHN
Sowie ich spüre, dass Damen in meine Straße einbiegt, laufe ich (erneut) an den Spiegel, fummele an meinen Kleidern herum, damit auch alles so sitzt, wie es soll, und hoffe, dass alles so bleibt (jedenfalls so lange, bis es Zeit ist, es auszuziehen).
Nachdem die Verkäuferin von Victoria's Secret und ich das Chaos beseitigt hatten, hat sie mir geholfen, dieses wirklich hübsche Set aus BH und Höschen auszusuchen, das weder aus Baumwolle besteht noch peinlich aufreizend ist und im Grunde auch nichts hält oder bedeckt, aber vermutlich ist genau das der Sinn der Sache. Anschließend war ich bei Nordstrom, wo ich dieses grüne Kleid und ein Paar dazu passende hochhackige Riemchensandaletten erstanden habe. Auf dem Nachhauseweg hab ich mir noch eine schnelle Maniküre und Pediküre gegönnt, was ich nicht mehr gemacht habe, seit mir der Unfall für immer mein altes Leben geraubt hat, in dem ich beliebt und mädchenhaft war wie Stada.
Nur dass ich nie wirklich wie Stacia war.
Ich meine, ich war beliebt und bei den Cheerleadern, aber ich war nie so gemein.
»Woran denkst du?«, fragt Damen, der sich selbst aufgemacht hat und direkt nach oben in mein Zimmer gekommen ist, da Sabine nicht zu Hause ist.
Ich sehe ihn an, wie er sich gegen den Türrahmen lehnt und lächelt. Ich mustere seine dunklen Jeans, das dunkle Hemd und die dunkle Jacke sowie die schwarzen Motorradstiefel, die er immer trägt, und spüre, wie mein Herz zwei Schläge aussetzt.
»Ich habe an die letzten vierhundert Jahre gedacht«, sage ich und zucke zusammen, als seine Augen dunkel und bekümmert werden. »Aber nicht so, wie du denkst«, füge ich hinzu, da er auf keinen Fall glauben soll, ich hätte schon wieder über seine Vergangenheit nachgegrübelt. »Ich habe an all unsere gemeinsamen Leben gedacht und daran, dass wir nie ... ähm...«
Er zieht eine Braue hoch, und ein Lächeln umspielt seine Lippen.
»Ich bin einfach froh, dass diese vierhundert Jahre jetzt vorüber sind«, sage ich leise. Er kommt auf mich zu, schlingt mir die Arme um die Taille und zieht mich eng an sich. Mein Blick wandert über sein Gesicht, seine dunklen Augen, die glatte Haut und seine unwiderstehlichen Lippen, und ich sauge alles begierig auf.
»Ich bin auch froh«, sagt er, und aus seinen Augen blitzt der Schalk. »Nein, stimmt nicht, denn wenn ich's mir genau überlege, dann bin ich mehr als froh. Ich bin überglücklich.« Er lächelt, doch einen Augenblick später zieht er die Brauen zusammen und sagt: »Nein, das erklärt es auch nicht. Ich glaube, wir brauchen ein neues Wort.« Er lacht und senkt die Lippen zu meinem Ohr, ehe er flüstert: »Du bist heute Abend schöner denn je. Und ich will, dass alles perfekt ist. Ich will, dass alles so ist, wie du es dir erträumt hast. Ich hoffe sehr, dass ich dich nicht enttäusche.«
Ich stutze und weiche zurück, um sein Gesicht zu mustern, während ich mich frage, wie er überhaupt auf so eine Idee kommen kann, da ich es doch die ganze Zeit gewesen bin, die befürchtet hat, ihn zu enttäuschen.
Er legt mir einen Finger unters Kinn und hebt mein Gesicht an, bis meine Lippen auf seine treffen. Und ich erwidere seinen Kuss mit solcher Leidenschaft, dass er sich losmacht und sagt: »Vielleicht sollten wir ja lieber gleich ins Montage fahren?«
»Okay«, murmele ich, während mein Mund erneut den seinen sucht. Ich bereue meinen Scherz sofort, als wir uns voneinander lösen und ich sehe, wie hoffnungsvoll er ist. »Aber das können wir nicht machen. Miles bringt mich um, wenn ich seine Premiere versäume.« Ich lächele und warte, dass er auch lächelt.
Doch er lächelt nicht. Und als er mich mit angespannter und ernster Miene ansieht, weiß ich, dass ich der Wahrheit zu nahe gekommen bin. Alle meine Leben haben stets in dieser Nacht geendet - der Nacht, in der wir endlich zusammen sein wollten. Und obwohl ich mich nicht an Einzelheiten erinnere, erinnert er sich nur allzu gut.
Dann nimmt er meine Hand und sagt: »Tja, dann können wir ja von Glück sagen, dass du jetzt sozusagen untötbar bist und uns nichts mehr trennen kann.«
Das Erste, was mir auffällt, als wir zu unseren Plätzen gehen, ist, dass Haven neben Roman sitzt. Sie nützt Joshs Abwesenheit hemmungslos aus, drückt ihre Schulter an Romans Schulter und legt den Kopf schief, damit sie ihn anschmachten und über alles lächeln kann, was er sagt. Als Zweites fällt mir auf, dass mein Platz ebenfalls neben Roman ist. Nur bin ich im Gegensatz zu Haven davon alles andere als begeistert. Doch da sich Damen bereits den Randplatz gesichert hat und ich kein großes Theater um einen Tausch veranstalten will, lasse ich mich widerwillig auf meinen sinken. Ich spüre den aggressiven Druck von Romans Energie, als er mir direkt in die Augen sieht. Seine Aufmerksamkeit ist dermaßen auf mich fixiert, dass ich mich regelrecht winde.
Ich sehe mich in dem fast vollen Theater um und versuche, nicht mehr an Roman zu denken. Hocherfreut sehe ich Josh den Gang entlangkommen, wie gewohnt in engen schwarzen Jeans, nietenbeschlagenem Gürtel, blütenweißem Hemd und dünner Karokrawatte, die Arme voller Süßigkeiten und Wasserflaschen. Eine dicke schwarze Haarsträhne fällt ihm immer wieder in die Augen. Ich seufze erleichtert auf, als mir bewusst wird, wie perfekt er und Haven zueinander passen, und freue mich, dass er nicht abgelöst worden ist.
»Wasser?«, fragt er, während er sich auf den Sitz an Havens anderer Seite fallen lässt und zwei Flaschen in meine Richtung weitergibt.
Ich nehme mir eine und will Damen die zweite reichen, doch er schüttelt nur den Kopf und nippt an seinem roten Getränk.
»Was ist das denn?«, fragt Roman, beugt sich über mich und zeigt auf die Flasche. Seine unwillkommene Berührung lässt mir kalte Schauer über den Rücken laufen. »Du pichelst das Zeug ja weg, als wäre es mit Schnaps versetzt. Falls ja, dann teil doch deinen Reichtum, Kollege. Lass uns hier nicht im Regen stehen.« Er lacht, streckt die Hand aus und wackelt mit den Fingern, während er herausfordernd zwischen uns hin und her schaut.
Und gerade als ich mich einmischen will, da ich fürchte, dass Damen womöglich aus reiner Freundlichkeit einwilligt, Roman einen Schluck probieren zu lassen, geht der Vorhang auf, und die Musik setzt ein. Roman lehnt sich wieder zurück, wendet dabei jedoch den Blick keine Sekunde von mir ab.
Miles ist sagenhaft. So sagenhaft, dass ich mich immer wieder dabei ertappe, wie ich mich tatsächlich auf den Text, den er spricht, und die Songs, die er singt, konzentrieren kann, auch wenn ich den Rest der Zeit ausschließlich daran denke, dass ich bald meine Jungfräulichkeit verlieren werde - zum ersten Mal in vierhundert Jahren.
Ich meine, es ist so erstaunlich, dass wir es trotz aller Inkarnationen und aller Gelegenheiten, zu denen wir uns kennen gelernt und ineinander verliebt haben, nie geschafft haben, Nägel mit Köpfen zu machen.
Doch das wird sich heute Nacht ändern.
Alles wird sich ändern.
Heute Nacht begraben wir die Vergangenheit und schreiten der Zukunft unserer ewigen Liebe entgegen.
Als endlich der Vorhang fällt, erheben wir uns alle und strömen in Richtung Backstagebereich. Plötzlich fällt mir siedend heiß etwas ein. »Verdammt!«, sage ich zu Damen. »Wir haben vergessen, Blumen für Miles zu besorgen.«
Doch Damen lächelt nur und schüttelt den Kopf. »Was redest du denn da? Wir haben jede Menge Blumen!«
Ich blinzele und frage mich, was er damit meint, denn für meine Augen hat er genauso leere Hände wie ich. »Was redest du denn da?«, flüstere ich und spüre die wundervolle warme Spannung durch mich strömen, als er mir seine Hand auf den Arm legt.
»Ever«, sagt er mit belustigter Miene. »Diese Blumen existieren bereits auf der Quantenebene. Wenn du sie auf materieller Ebene zugänglich machen willst, musst du sie nur manifestieren, wie ich es dir beigebracht habe.«
Ich sehe mich um, um mich zu vergewissern, dass niemand unser sonderbares Gespräch belauscht, und muss verlegen zugeben, dass ich es nicht kann. »Ich weiß aber nicht, wie«, sage ich und wünsche mir, er würde einfach die Blumen manifestieren, damit wir das Ganze hinter uns haben. Jetzt ist wirklich nicht der geeignete Augenblick für Lektionen.
Doch Damen akzeptiert das nicht. »Natürlich kannst du. Habe ich dir denn gar nichts beigebracht?«
Ich presse die Lippen zusammen und starre zu Boden, weil er in Wirklichkeit versucht hat, mir eine ganze Menge beizubringen. Aber ich bin eine miserable Schülerin und habe alles dermaßen schleifen lassen, dass es für uns beide ratsamer ist, wenn ich das Manifestieren von Blumen ihm überlasse.
»Mach du's«, sage ich und zucke unter der Enttäuschung zusammen, die sich über sein Gesicht legt. »Du bist so viel schneller als ich. Wenn ich es versuche, wird es zu einer großen Szene, die Leute kriegen es mit, und dann müssen wir irgendwelche Erklärungen abgeben.«
Er schüttelt den Kopf und lässt sich von meinen Worten nicht erweichen. »Wie willst du es je lernen, wenn du dich immer auf mich verlässt?«
Ich seufze und weiß, dass er Recht hat, aber ich will trotzdem keine wertvolle Zeit verschwenden, indem ich versuche, einen Strauß Rosen zu manifestieren, der daraufhin erscheinen mag oder auch nicht. Ich will nur möglichst schnell die Blumen in die Hand kriegen, Miles gratulieren und dann ins Montage fahren und unsere Pläne umsetzen. Vor einem Moment hatte es noch den Anschein, als wollte auch Damen nur das. Doch jetzt zeigt er sich mir gegenüber total streng und lehrerhaft, was, ehrlich gesagt, die Stimmung ein bisschen trübt.
Ich hole tief Luft, lächele lieb und lasse meine Finger an seinem Revers entlangkrabbeln. »Du hast völlig Recht«, sage ich. »Und ich werde mich bessern, ich versprech's. Ich habe ja nur gedacht, dass du es vielleicht diesmal machen könntest, da du ja so viel schneller bist als ich.« Ich streichele die Stelle direkt unter seinem Ohr und weiß, dass er gleich einknicken wird. »Ich meine, je eher wir den Blumenstrauß haben, desto eher können wir gehen, und dann ...«
Ich habe noch nicht einmal zu Ende gesprochen, als er schon die Augen schließt und eine Hand vor sich hält, als umfasste er einen Strauß Blumen. Hastig sehe ich mich in alle Richtungen um, um sicherzugehen, dass niemand zusieht.
Doch als ich Damen wieder ansehe, packt mich die Panik. Denn nicht genug damit, dass seine Hand nach wie vor leer ist, nun bahnt sich auch schon zum zweiten Mal in zwei Tagen eine Schweißspur den Weg über seine Wange.
Was eigentlich nicht so merkwürdig wäre, abgesehen von der Tatsache, dass Damen nicht schwitzt.
Genau wie er nicht krank wird und nie einen schlechten Tag hat, schwitzt er auch nicht. Ganz egal, wie hoch die Außentemperatur auch sein mag, ganz egal, was für eine Aufgabe er auch zu erledigen hat, er bleibt immer kühl, ruhig und ist allem, was zu tun ist, locker gewachsen.
Bis gestern, als es ihm nicht gelungen ist, das Portal erscheinen zu lassen.
Und jetzt, da es ihm misslingt, einen simplen Blumenstrauß für Miles zu manifestieren.
Und als ich seinen Arm berühre und ihn frage, ob mit ihm alles in Ordnung ist, verspüre ich nur einen matten Abklatsch des gewohnten warmen Kribbelns.
»Natürlich ist mit mir alles in Ordnung.« Er blinzelt und hebt die Lider gerade lange genug, um mich anzusehen, ehe er sie wieder fest schließt. Und obwohl unser Blickkontakt nur kurz war, lässt mich das, was ich in seinen Augen gesehen habe, frösteln und kraftlos werden.
Das waren nicht die warmen, liebevollen Augen, die ich mittlerweile gewohnt bin. Diese Augen waren kalt, distanziert, abweisend - genau wie schon einmal zu Beginn der Woche. Und ich sehe zu, wie er sich konzentriert, mit gerunzelter Stirn, die Oberlippe schweißbedeckt, entschlossen, das hier hinter sich zu bringen, damit wir beide endlich unsere perfekte Nacht beginnen können. Und da ich das Ganze nicht in die Länge ziehen oder das von neulich noch einmal erleben will, als er das Portal nicht erscheinen lassen konnte, stelle ich mich dicht neben ihn und schließe ebenfalls die Augen. Ich sehe einen herrlichen Strauß aus zwei Dutzend roten Rosen in seiner Hand, rieche ihren berauschenden, süßen Duft und spüre die samtig-weichen Blütenblätter, die oben an den langen dornigen Stielen sitzen ...
»Autsch!« Damen schüttelt den Kopf und hält sich den Finger an den Mund, obwohl die Wunde bereits geheilt ist, ehe er ihn dort hat. »Ich habe vergessen, eine Vase zu manifestieren«, sagt er, offenkundig überzeugt davon, dass er die Blumen selbst gemacht hat, und ich bin fest entschlossen, ihn in diesem Glauben zu lassen.
»Lass es mich probieren«, sage ich, um ihm eine Freude zu machen. »Du hast ja völlig Recht, ich brauche die Übung«, füge ich hinzu, ehe ich die Augen schließe und mir die aus dem Esszimmer zu Hause vorstelle, die mit dem komplizierten Muster aus Kringeln und Atzrillen und leuchtenden Facetten.
»Waterford-Kristall?« Er lacht. »Was soll er denn glauben, was wir für diesen Abend ausgegeben haben?«
Ich lache auch, erleichtert, dass die Merkwürdigkeiten ein Ende haben und er wieder Witze macht. Ich nehme die Vase, die er mir unsanft in die Hände drückt. »Hier«, sagt er. »Du gibst Miles die Blumen, und ich hole in der Zwischenzeit mein Auto.«
»Bist du sicher?«, frage ich, da mir auffällt, dass die Haut um seine Augen angespannt und bleich wirkt und seine Stirn ein bisschen feucht ist. »Wir können doch einfach reingehen, ihm gratulieren und wieder gehen. Es muss ja kein großer Auftritt werden.«
»So umgehen wir die lange Autoschlange und kommen schneller weg.« Er lächelt. »Ich dachte, du willst so bald wie möglich ins Hotel.«
Will ich ja. Genau wie er. Aber ich bin auch beunruhigt. Beunruhigt, weil er nicht manifestieren konnte, beunruhigt wegen seines flüchtigen, kalten Blicks - und während ich den Atem anhalte, als er einen Schluck aus seiner Flasche trinkt, rufe ich mir in Erinnerung, wie rasch seine Wunde geheilt ist, und rede mir selbst ein, dass das ein gutes Zeichen ist.
Und da ich weiß, dass meine Besorgnis ihm nur noch schlechtere Gefühle machen würde, räuspere ich mich kurz und sage: »Gut. Du holst das Auto, und ich warte hier auf dich.«
Doch ich kann die erschreckende Kühle seiner Wange nicht ignorieren, als ich mich vorbeuge, um ihm einen Kuss zu geben.